Die Stunde der Wahrheit

Jetzt ist es also amtlich. Das Ultraschallgerät, mit dem der junge Arzt emsig seine Runden auf meinem Bauch dreht, schließt alles andere aus.

Ich. Bin. Schwanger.

Der Arzt beglückwünscht mich. Vielen Dank, aber ich weiß grade nicht so recht, ob ich mich wirklich beglückwünschenswert fühle. Naja, eigentlich weiß ich es schon. Nein, ich brauche keine Glückwünsche, ich brauche viel dringender entweder einen doppelten Whiskey (hab ich allerdings noch nie getrunken) oder jemanden, der mich rüttelt, damit ich endlich aufwache.

Ich werde mich dann aufsetzen, einen Blick auf den Wecker werfen, mir den Angstschweiß von der Stirn wischen und schwindelig vor Erleichterung zurück ins Kissen sinken. "Puh, nur ein Traum..." werde ich mir denken.

Irgendwie passiert aber nichts dergleichen und so langsam aber sicher dämmert es mir: Ich bin 18, auf halber Strecke meiner Ausbildung und in einer Beziehung, die über den Status "frisch verliebt" noch nicht hinausgewachsen ist. Gerade erst angekommen, in dieser für mich großen und fremden Stadt.

Kurz, ich glaube, ich hab ein Problem.

Zu allem Überfluss - und dieser Gedanke lässt mich noch ein bisschen lauter aufheulen - habe ich einen Vater, der zu cholerischen Höchstleistungen fähig ist. Schon wesentlich kleinere Aufreger haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass dieses Pulverfass explodiert. Diese Aufreger waren im Gegensatz zu dieser Dynamit-Nachricht allerdings das reinste Brausepulver.

Sollte ich mich nicht eigentlich freuen? Ich kenne aus dem Fernsehen diese glücklichen Neu-Schwangeren, die selig lächeln, von ihrem Partner das Händchen getätschelt bekommen und dann beide Hände auf den noch nicht vorhandenen Bauch legen und so Sachen wie "Unser Krümelchen" hauchen.

Ich weiß nicht genau, wie ich mich fühle, aber eins kann ich sagen, davon bin ich Lichtjahre entfernt. Eher komme ich mir leer vor. Unfähig, meine Gedanken zu sortieren und zu realisieren, wie unsagbar drastisch sich mein Leben in den letzten 5 Minuten verändert hat. Ich fühle mich einfach nur leer.

Diese Leere hindert mich aber nicht daran, Rotz und Wasser zu heulen. Wahre Sturzbäche sind das.

Um mich kurz zu sammeln und auch, um diese Bühne zu verlassen - denn mittlerweile habe ich das Gefühl, das gesamte Ambulanzpersonal(ich war eigentlich wegen etwas ganz anderem da und diese Schwangerschaft ist hier für alle Beteiligten sozusagen ein hier selten gestellter Zufallsbefund) samt Warteraumbesatzung folgt meinem persönlichen Drama wie gebannt - verziehe ich mich aufs WC.

Diese Auszeit ist jedoch nur von sehr kurzer Dauer, denn kaum habe ich dem Spiegel einen Blick auf mein verschwollenes Gesicht entlockt, klopft es energisch an der Tür. Manno, sehen die nicht, hier besetzt ist??

"Frau E., bitte machen sie sofort die Türe auf!" Ich schließe also auf und strecke meinen Kopf durch die Tür, um zu erfahren, was jetzt so dringend ist. Die Antwort haut mich praktisch so aus den Socken, dass mir die Tränen und der Rotz wegbleiben und ich beschließe, mich zusammenzureißen und die Heulerei auf später zu verlegen. Unfassbar, die dachten doch alle im Ernst, dass ich meinem Leben in dieser 1 m² großen Klokabine ein Ende setze. Mich mit Klopapier stranguliere oder in der WC-Schüssel ertränke.


Nach der Klärung dieses Missverständnisses, ob mir das restlos gelungen ist oder nicht kann ich nicht sagen, mache ich mich auf den Heimweg in meine WG. In der Hand die Telefonnummer von einem Gynäkologen in der Nähe. Hab nicht mal mitbekommen, das mir die jemand zugesteckt hat.

Egal, das kann warten. Ich muss jetzt erstmal ganz dringend meine beste Freundin anrufen.

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veröffentlicht am 29.06.2018 von Radiergummi
geändert am 29.04.2020 von Radiergummi



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